232.   ©Der ganz alte Fall 

 

Wussten Sie, dass in Deutschland wirklich 95 Prozent aller Mordfälle aufgeklärt werden?, sagte Dagmar Hoch-fellner und wies mit der Hand auf einen Stuhl. Schwerfällig ließ sich der Mann im derben Lodenzeug darauf nieder, wobei er fauchend den Atem zwischen den Zähnen ausstieß. Und warum erzählen Sie mir das?, fragte der Mann ungehalten. Ja, warum eigentlich? Dagmar Hochfellner stellte sich diese Frage selbst und war sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, den Richtigen vor sich zu haben. Verworren war das alles, aber die Indizien. Eigentlich hatte sie in einem ganz anderen Fall recherchiert und war dann auf eine Spur gestoßen, die ihr keine Ruhe mehr ließ. Konnte es tatsächlich sein? Im Internet war sie auf einen Artikel über Die Faszination ungeklärter Kriminal-fälle gestoßen. Und darin stand es schwarz auf weiß. Nach beinahe 30 Jahren waren die Ermittlungen im Mord an einer jungen Frau wieder aufgenommen worden. Im LKA fand sie weitere Einzelheiten dazu. Gut, sie musste zuge-ben, ihre Schlussfolgerung war etwas gewagt, aber das Bewegungsprofil des vor ihr sitzenden Mannes zeigte, dass er im fraglichen Zeitraum tatsächlich für einige Monate in Heilbronn gemeldet war. Hören Sie, sagte Dagmar Hoch-fellner, es ist ihr gutes Recht, alles abzustreiten, aber Fakt ist, dass Zeugen Sie gestern Nacht am Tatort gesehen haben. Na und schon, erwiderte der Mann. Ich bin hier vom Ort und bin überall schon mal gewesen, vielleicht auch dort, wo Sie die Leiche gefunden haben. Aber ich hab‘ damit nichts zu tun. Ich weiß noch nicht einmal, wo das gewe-sen sein soll. Das war der Knackpunkt. Der Mann hatte angegeben, letzte Nacht herumgelaufen zu sein, weil es Streit mit seiner Frau gegeben habe u. er deshalb nicht habe schlafen können. In der Gegend hatte es in den letzten fünf Jahren bereits drei Morde an jungen Frauen gegeben. Trotz akribischer Suche, hatte man in keinem der Fälle verwertbare Spuren gefunden. Kein fremdes Fahrzeug, keine Auffälligkeiten, einfach nichts. Jetzt, nach dem vierten Mord, könnte sich das Blatt gewendet haben. Anwohner hatten den Mann nämlich beobachtet, wie er gegen zwei Uhr morgens eiligen Schrittes aus der Parkanlage gekommen war, in der am Morgen ein Jogger die Tote gefunden hatte. Mit einem Ruck erhob sich der Mann plötzlich, schob den Stuhl beiseite und meinte: Dann geh‘ ich jetzt. Eine Nacht bei Ihnen, das langt mir bis unter die Haut. Auf ein Zeichen hin drückte ein anwesender Polizist in Uniform den Mann zurück auf seinen Stuhl. Sie gehen hier nirgendwo hin, außer zurück in Ihre Zelle!, sagte Dagmar und bedeutete dem männlichen Kollegen, den Mann abzuführen. Sie saß fest und brauchte dringend mehr Fakten. Die bloße Tatsache, dass er damals in Heilbronn gewohnt hatte und jetzt in der Nähe eines Tatortes gesehen worden war, würde nicht ausreichen, den Mann in Haft zu behalten. Jeder Anwalt würde ihn binnen weniger Stunden frei bekommen. Die Zeit drängte also. Nur, was tun? Wenn sie richtig lag, musste es Hinweise geben, die sie bisher übersehen hatte oder, Schoss es Dagmar Hochfellner plötzlich durch den Kopf, sie war zu sehr auf die beiden Zeu-gen fixiert. Zeugen können sich irren. Oft genug schon hatte sie es erlebt, dass Aussagen in sich zusammengebroch-en waren, wenn plötzlich kleine Schnipsel von Details etwas anderes belegten, als Zeugen vorgaben, gesehen zu haben. Kleidungsstücke, die der Beschuldigte getragen haben soll oder Frisur und Haarfarbe wurden beschrieben, obwohl der vermeintliche Täter nachweislich einen Hut getragen hatte, u. so hätte sie noch zahlreiche solcher Bei-spiele anfügen können. Wenn es der Mann gewesen war, wenn er der Mörder dieser Frauen von Heilbronn war, der nun auch hier in der Region sein mörderisches Unwesen trieb, dann musste er etwas an sich haben, etwas unver-wechselbares, das ihn überhaupt erst zu solchen Taten befähigte. Zahlreiche psychiatrische Gutachten würden ihre Thesen untermauern, andere vielleicht aber auch das genaue Gegenteil belegen. Und, ein entscheidender Punkt, der Mann würde nicht lange genug in Haft bleiben, um solche Gutachten überhaupt erst anstoßen zu können. Wieder in der Zelle entledigte sich der Mann seiner Jacke, warf sie auf die Pritsche und setzte sich auf den einfachen Stuhl vor der Arbeitsplatte. Scheiß Situation! Wie war er da hineingeraten. Diese Kommissarin würde seine Frau ausfragen. Natürlich, sollte sie es ruhig tun. Wütend hatte er die Tür zugeworfen, irgendwann nach Mitternacht war es gewes-en. Sie hatten wieder einmal, wie schon so oft, heftig gestritten, bis es ihm zu blöd geworden war und er nur noch hinaus wollte. Plan- und ziellos war er umher gestrichen, immer nur diesen einen Gedanken im Kopf. Dieses Miststück. Hinter seinem Rücken u. ausgerechnet mit diesem Idioten, den er nur zu gut kannte. Scheiße! Dann war plötzlich diese Frau aufgetaucht. Er hatte sie zunächst gar nicht bemerkt. Schwer atmend stützte er seinen Kopf mit den Händen, um dann mit einem Mal aufzuspringen, ein paar Schritte hin und her zu laufen und sich schließlich auf die Pritsche zu werfen. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Dieses blöde Frauenzimmer hatte sich doch tat-sächlich gewehrt und ihm etwas in die Seite gerammt. Einen Ast vielleicht, der da zufällig gelegen war oder etwas anderes. Es war auch egal, aber es schmerzte höllisch u. eine bläuliche Verfärbung rechts oberhalb des rechten Hüft-knochens markierte die Stelle, wo sie ihn getroffen hatte. Dagmar Hochfellner las indessen zum wiederholten Mal die Berichte der Spurensicherung. Gab es etwas, das ihr bisher entgangen war? Sie überflog den Obduktionsbericht, eine Aneinanderreihung medizinischer Fachausdrücke. Dann die Fotos vom Tatort, die Tote Frau, entsetzlich zuge- richtet. Ein scheiß Beruf, dachte sie und schob die Fotos wieder zusammen. Dann sah sie es! Hastig nahm sie das Foto und starrte wie gebannt auf die abgebildete Hand der Toten. Blitzschnell glitten ihre flinken Augen erneut über den Obduktionsbericht. Da stand es schwarz auf weiß! Schwellung an der rechten Handfläche, vermutlich her-vorgerufen. Die Kommissarin griff das Foto von vorhin, starrte auf das Bild, dann auf den Obduktionsbericht. Lo-gisch, das war es! Was jetzt folgte, war Routine. Den Staatsanwalt informieren, dann die Gerichtsmedizin und ab-warten. Unsanft wurde der Mann in die Wirklichkeit zurück gerissen. Trotz seiner Schmerzen war er eingenickt, als mit einem lauten Klack der Riegel der Zellentüre anschlug und eine scharfe Stimme ihn anwies, aufzustehen und mitzukommen. Zwei Beamte brachten ihn in den Sanitätsbereich, wo bereits ein Amtsarzt wartete. Bis auf die Unt-erhose alles ausziehen!, befahl ihm der Arzt und erklärte, er müsse eine weitere eingehende Untersuchung über sich ergehen lassen. Die Proteste des Mannes wischte der Arzt beiseite und schob ihm eine richterliche Verfügung unter die Nase. Es ist besser Sie kooperieren, sagte der Arzt, dann wird es für Sie leichter und erklärte, dass er andernfalls die Hilfe der Beamten in Anspruch nehmen müsse. Was haben wir denn da?, fragte der Arzt und drückte leicht ge-gen die blau verfärbte Stelle am rechten Hüftknochen. Gar nicht schön, sagte er, während sich eine Woge von Schmerz ins Gehirn des Mannes fraß. Könnte ihre Niere getroffen haben. Wir sollten uns das morgen näher an-sehen. Wäre nur zu Ihrem Besten. Denn mit Nieren sei nicht zu spaßen, erklärte der Arzt noch. Sehen Sie, sagte Dagmar Hochfellner zu dem Mann, als er am nächsten Tag vorgeführt wurde, ich sagte es Ihnen bereits: 95 Prozent aller Mordfälle werden aufgeklärt. Und sie erklärte dem verdutzten Mann, wie sie auf das Foto mit dem Schlüssel-bund in der Hand der Frau gestoßen war. Wissen Sie, ihr Opfer besaß noch einen Hausschlüssel, wie es sie früher gab, einen aus Eisen mit einem Bart am Kopf. Und als sie dann im Obduktionsbericht von der Schwellung an der rechten Handfläche der Toten gelesen habe, habe sie nur noch eins und eins zusammenzählen müssen. Die Frau müsse mit dem Schlüssel zugestoßen u. auch getroffen haben, denn nur so sei die Schwellung an der Handfläche zu erklären. Rückschlag des Schlüsselendes auf die Handfläche, um das noch zu ergänzen, beendete die Kommissarin ihre Ausführungen und fügte hinzu: Jetzt wird es nichts, mit dem nach Hause gehen und zwar für eine ganze Weile.

 

 

 

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232.  ©The very old case

 

Did you know that in Germany 95 percent of all murder cases are solved? said Dagmar Hochfellner, pointing to a chair. The man in the rough loden stuff sat down heavily on it, hissing out his breath between his teeth. And why are you telling me this? the man asked indignantly. Yes, why actually? Dagmar Hochfellner asked herself this question and was suddenly no longer so sure that she had the right person in front of her. It was all confusing, but the evidence. Actually, she had researched a completely different case and then came across a lead that gave her no peace. Could it really be? On the Internet she had come across an article about The Fascination of Unsolved Criminal Cases. And it said it in black and white. After almost 30 years, the investigation into the murder of a young woman had been resumed. She found more details about this in the LKA. Well, she had to admit, her conclusion was a bit daring, but the movement profile of the man sitting in front of her showed that he was actually registered in Heilbronn for a few months during the period in question. Look, said Dagmar Hochfellner, you have every right to deny everything, but the fact is that witnesses saw you at the crime scene last night. Oh well, the man replied. I'm local and I've been everywhere, including maybe where you found the body. But I have nothing to do with it. I don't even know where that was supposed to be. That was the crux of the matter. The man stated that he had been walking around last night because there had been an argument with his wife and that he had been unable to sleep as a result. There had already been three murders of young women in the area in the past five years. Despite a meticulous search, no usable traces were found in any of the cases. No foreign vehicle, no abnormalities, simply nothing. Now, after the fourth murder, the tide may have turned. Local residents had observed the man as he hurriedly came out of the park at around two in the morning, where a jogger had found the body that morning. The man suddenly got up with a jerk, pushed the chair aside and said: Then I'll go now. One night with you, that gets under my skin. At a signal, a uniformed police officer present pushed the man back into his chair. You're not going anywhere except back to your cell! Dagmar said and gestured to the male colleague to take the man away. She was stuck and desperately needed more facts. The mere fact that he had lived in Heilbronn at the time and had now been seen near a crime scene would not be enough to keep the man in custody. Any lawyer would have him released within hours. So time was of the essence. Just what to do? If she was right, there must be clues that she had previously overlooked or, Dagmar Hochfellner suddenly thought, she was too fixated on the two witnesses. Witnesses can be wrong. Often enough she had experienced statements collapsing when suddenly small snippets of details proved something different than witnesses claimed to have seen. Items of clothing that the accused is said to have worn or hairstyle and hair color were described, although the alleged perpetrator had demonstrably worn a hat, and so she could have added numerous such examples. If it was the man, if he was the murderer of these women from Heilbronn, who was now up to his murderous mischief here in the region, then there must be something about him, something unmistakable, that enabled him to commit such acts in the first place . Numerous psychiatric reports would support their theses, but others might also prove the exact opposite. And, crucially, the man would not be held in custody long enough to initiate such reports in the first place. Back in the cell, the man took off his jacket, threw it on the bunk and sat down on the simple chair in front of the worktop. shit situation! How did he get in there? This detective would question his wife. Of course, she should go ahead and do it. Angry he had the door  thrown, sometime after midnight it had been. As so often before, they had once again argued violently until he got bored and just wanted to get out. He wandered around without a plan or aim, always with just this one thought in his head. This bitch. Behind his back and with that idiot he knew all too well. Crap! Then suddenly this woman appeared. He hadn't even noticed her at first. Breathing heavily, he supported his head with his hands, then suddenly jumped up, ran a few steps back and forth, and finally threw himself onto the bunk. A sharp pain shot through him. This stupid woman had actually defended herself and rammed something in his side. A branch maybe that happened to be there or something else. It didn't matter either, but it hurt like hell and a bluish discoloration right above the right hip bone marked the spot where she had hit him. Meanwhile, Dagmar Hochfellner read the forensics reports again and again. Was there anything she had missed so far? She scanned the autopsy report, a jumble of medical terms. Then the photos from the crime scene, the dead woman, horribly battered. A shit job, she thought, pushing the photos back together. Then she saw it! She hastily took the photo and stared spellbound at the dead woman's hand. Her quick eyes slid over the autopsy report again in a flash. There it was in black and white! Swelling on the right palm, presumably caused. The inspector grabbed the photo from earlier, stared at the picture, then at the autopsy report. Logically, that was it! What followed was routine. Inform the prosecutor, then the coroner and wait and see. Roughly, the man was torn back to reality. Despite his pain, he had nodded off when the cell door bolt slammed with a loud click and a sharp voice told him to get up and come with me. Two officers took him to the first-aid station, where a medical officer was already waiting. Take off everything except your underpants! the doctor ordered him and explained that he had to undergo another thorough examination. The doctor brushed aside the man's protests and shoved a court order under his nose. It's better if you cooperate, the doctor said, then it will be easier for you and explained that otherwise he would have to seek the help of the officers. What have we got here? the doctor asked and pressed lightly on the blue discolored area on the right hip bone. Not pretty at all, he said as a surge of pain ripped through the man's brain. Could have hit her kidney. We should take a closer look at it tomorrow. Would be for your own good. Because kidneys are not to be trifled with, the doctor explained. You see, Dagmar Hochfellner said to the man when he was brought in the next day, I already told you: 95 percent of all murder cases are solved. And she explained to the puzzled man how she came across the photo with the bunch of keys in the woman's hand. You know, her victim still had a house key like they used to have, an iron one with a beard on the head. And when she read about the swelling on the dead man's right palm in the autopsy report, all she had to do was put two and two together. The woman must have struck with the key and also hit it, because this is the only way to explain the swelling on the palm of her hand. Throwing the end of the key back into the palm of the hand, to add to that, the commissioner finished her remarks and added: Now it won't be anything to go home with for quite a while.