210.  ©Bahnsteig 8

 

Auf dem Bahnsteig 8 fuhr gerade ein Zug aus der Schweiz ein, viele bepackte Menschen aller Nationen stiegen aus und ein. Ich saß auf einer Bank und schaute dem hektischen Treiben zu mehr aus Langeweile, Fernweh hatte ich nicht. Der nächste war schon von weitem zu hören und aus dem Lautsprecher erklang eine freundliche Stimme: Achtung auf Gleis 8, der ICE aus Mailand fährt in einer Minute ein und hält nur fünf Minuten! Die Reisenden standen schon längst bereit, aufgeregt, rücksichtslos und ohne eine freundliche Miene an den Tag zu legen. Mir war die Lust vergangen und wollte mich gerade von meiner Bank erheben, als ich ein kleines Händchen auf meinem Knie spürte. Vor mir stand ein kleiner Junge, etwa fünf Jahre alt mit Lederhose, kariertem Hemd und grauer Strick-jacke. Einen schwarzen Rucksack mit einem Edelweiß bestickt, trug er stolz auf seinem Rücken. Ja, sag mal, bist du ganz allein? Wo ist deine Mama? Zu Hause halt in Bern, die Oma holt mich hier schon noch ab. Nur ist es so, dass sie nachmittags schläft und den Wecker vielleicht nicht gestellt hat oder sogar den Tag verwechselt hat. Sie weiß manchmal nicht, ob es Sonntag oder schon Montag ist. Sie verwechselt vieles, sagt meine Mama, in letzter Zeit, aber mich doch nicht, oder? Ich bin nämlich ihr ein und alles, sie freut sich schon lange auf ihren Julian. Aber wohin ich auch schaue, ich kann sie nicht erblicken. Zwar ist sie klein und zierlich, aber ihre dicke, dunkle Brille müsste ich schon von weitem sehen. Inzwischen hatte er sich neben mich gesetzt. Ich hatte zum Glück ein paar Süßigkeiten in meiner Handtasche, die ich ihm anbieten konnte, und er griff auch ungeniert zu. Er erzählte unbefangen von den vielen Vorteilen, die er bei der Großmutter jedes Mal erfahren durfte. Sie kochte immer seine Lieblingsspeisen, er durfte lang aufbleiben, waschen und kämmen nahm sie nicht so genau, und auch sonst war sie sehr großzügig mit Geschenken und von ihren Gute-Nacht-Geschichten konnte er nie genug bekommen. Sie waren so spannend und manchmal auch gruselig! Mein Opa lebt schon lange nicht mehr, und ich bin sozusagen ihr einziger Beschützer und Alleinunterhalter, denn sie hat auch kein Haustier. Die Wohnung ist zu eng, aber für mich viel gemütlicher, als in unserem großen Haus. Zu uns will sie nicht ziehen, die Schweizer Sprache kann sie nämlich nicht ausstehen. All-mählich machte ich mir Sorgen. Hör mal Julian, wo wohnt denn deine Oma nun, hast du vielleicht die Adresse mit Telefonnummer in deinem Rucksack aufbewahrt? Ja, ja, das schon, aber es ist ja immer noch hell draußen, sie wird bestimmt noch kommen. Scheinbar gefiel es ihm, mit mir die Unterhaltung. Aber ich habe jetzt keine Zeit mehr und auch Hunger, weißt du, suche mal nach der Adresse, dann kann ich dich bei ihr abliefern oder wenigstens mal mit ihr telefonieren. Und so kam es, dass ich eine Stunde später mit ihm bei seiner geliebten Großmutter auf dem alten Sofa bei einer Tasse Kaffee und Kuchen saß, und eine Freundschaft entstand, noch über etliche Jahre hinaus. Jedes Jahr zu Weihnachten schrieb er mir einen rührenden Brief mit seinen besten Wünschen von Daheim und auch seine Oma hat inzwischen eingesehen, dass die Sprache gar nicht so schwer ins Gewicht fällt, um die Heimat zu verlassen. Zumal sie jetzt immer mehr vergaß u. sich auch mal gern verwöhnen ließ von denen, die sie so sehr in ihr Herz ge-schlossen hatte, und ihr Julian genießt weiterhin die Favoritenrolle, ganz egal, was die Zukunft auch  bringen mag. 

 

 

 

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210.  ©Platform 8

 

A train from Switzerland was just arriving on platform 8, many packed people of all nations got on and off. I sat on a bench and watched the hectic hustle and bustle out of boredom, I didn't have wanderlust. The next one could be heard from afar and a friendly voice rang out from the loudspeaker: Attention on platform 8, the ICE from Milan arrives in one minute and only stops for five minutes! The travelers had long been ready, excited, inconsiderate and without looking friendly. I had lost the urge and was just about to get up from my bench when I felt a small hand on my knee. In front of me was a little boy, about five years old, in leather pants, a checked shirt and a gray cardigan. He proudly carried a black rucksack embroidered with an edelweiss on his back. Yes, tell me, are you all alone? Where is your mother? At home in Bern, my grandma will pick me up here. It's just that she sleeps in the afternoon and may not have set the alarm clock or even mixed up the day. Sometimes she doesn't know whether it's Sunday or Monday. She mixes up a lot, says my mom, lately, but not me, right? I am everything to her, she has been looking forward to her Julian for a long time. But wherever I look I cannot see them. She is small and petite, but I should see her thick, dark glasses from afar. In the meantime he had sat down next to me. Luckily I had a few sweets in my handbag to offer him, and he grabbed it unabashedly. He told impartially about the many advantages that he was allowed to experience each time with his grandmother. She always cooked his favorite foods, he was allowed to stay up late, washing and combing were not very careful, and she was otherwise very generous with gifts and he could never get enough of her bedtime stories. They were so exciting and sometimes scary too! My grandpa hasn't lived for a long time, and I'm her only protector and entertainer, so to speak, because she doesn't have a pet either. The apartment is too cramped, but much more comfortable for me than in our big house. She doesn't want to move to us, because she can't stand the Swiss language. I was getting worried. Listen, Julian, where does your grandma live now, have you perhaps kept the address and telephone number in your backpack? Yes, yes, yes, but it's still light outside, she'll definitely come. Apparently he liked the conversation with me. But now I have no more time and I'm hungry, you know, look for the address, then I can drop you off at her place or at least talk to her on the phone. And so it happened that an hour later I was sitting with him at his beloved grandmother's on the old sofa with a cup of coffee and cake, and a friendship developed that lasted for several years. Every year at Christmas he wrote me a touching letter with his best wishes from home and his grandmother has now also realized that the language is not that difficult to leave home. Especially since she now forgot more and more and also liked to be pampered by those she had taken so deeply into her heart, and her Julian continues to enjoy the role of favorites, no matter what the future may bring.