196.  ©Gitarristen weinen nicht

 

Wie er sie hasste, wie er sich selbst für das hasste, was er war. Sammy ließ sich auf sein Bett fallen und vergrub das Gesicht im Kopfkissen. In der Schule und vor seiner Mutter hatte er die Tränen noch zurückhalten können, aber jetzt, wo er allein war, gab er den verzweifelten Kampf auf. Heiß liefen sie über seine Wangen und versiegten in die Kissens. Die Worte seiner Mitschüler hallten ihm noch immer in den Ohren. Mädchen, Mädchen, hatten sie gerufen, als er am Schultor an ihnen vorbei gegangen war. Streber hatten sie ihn genannt, als er wieder einmal eine eins bekam und der Lehrer den 14 Jährigen in den Himmel lobten. Warum konnten sie ihn nicht endlich in Ruhe lassen? Er hatte ihnen doch nie etwas getan und was konnte er für das, was er war? Seit er in die Schule ging, musste er die Hänseleien seiner Mitschüler aushalten. Jeden Tag aufs Neue und seit seine Lehrerin ihn zu einem IQ-Test geschickt hatte, bei dem er weit überdurchschnittlich abschnitt, war es noch schlimmer geworden. Aber nicht nur seine guten Noten und seine Fähigkeit alles Neue in sich aufzunehmen, machte ihm das Leben schwer. Auch sein Aussehen ließ ihn immer wieder zum Opfer der bösartigen Späße seiner Mitschüler werden. Seine recht große, aber dabei doch zierliche Figur ließ in zerbrechlich wirken. Das Kinnlange schwarze Haar unterstrich seinen leicht femininen Gesichtszüge. Sicher, er hätte sich abschneiden können, aber dann würde er auch den einzigen Schutz vor den Blicken seiner Mitschüler verlieren. Außerdem wusste er, wie sehr seine Mutter die langen Haare hasste. Sie waren für Sammy die einzige Möglichkeit ein wenig Wiederstand zu leisten, denn die Angst seiner Mutter, ihrem kleinen Lieblings könnte etwas passieren, glich schon Hysterie. Sie wolle ihn fördern, sagte sie immer. Doch der wahre Grund für die unzähligen Aufgaben, die sie ihm gab, war ein anderer. Sie wollte ihn von seinem 6 Jahre älteren Bruder Francis fernhalten, der in ihren Augen der schlechteste Umgang für ihren kleinen Sammy war. Mit 18 hatte er die Schule abgebrochen und war mit seiner Band in ein altes Funkhaus gezogen. Er hatte schon immer ein großes Herz für die Musik gehabt. Das Abitur hatte er nie gewollt und engagierte sich nun im sozialen Bereich. Die Brüder hatten sich immer gut verstanden und da Frau Clerent für den jüngeren schon die ganz genaue Zukunftspläne hatte, er sollte Arzt werden, versuchte sie mit allen Mitteln zu verhindern, dass Sammy auch nur auf den Gedanken kam hier seinem Bruder nachzueifern. Nach einer Weile schlief Sammy ein. Er war am Ende, körperlich und seelisch. Der Junge wachte erst wieder auf, als er einen Streit auf dem Flur hörte. Die beiden Stimmen erkannte er sofort. Es waren seine Mutter und Francis. Der Streit wurde lauter, zumindest von Frau Clerents Seite. Sammy hielt sich die Ohren zu. Er wollte es nicht mehr hören und er konnte auch nicht mehr. Jahrelang hatte er die Auseinandersetzungen der beiden mit anhören müssen, fast jeden Abend hatten sie sich angeschrien, wenn Sammy im Bett lag. Das Thema war immer das Gleiche gewesen. Francis war nach der Mutter faul, strengte sich nicht genug an und hatte nur seine Musik im Kopf. Sammy hatte sich oft gefragt, ob sie gewusst hatten, dass er alles durch diese dünnen Wände hören konnte. Nach einer Weile verstummte der Streit und es trat eine merkwürdige Stille ein. Er überlegte, ob er die Tür einen Spalt öffnen sollte, um sehen zu können, was auf dem Flur los war, ließ es dann aber bleiben. Er mochte Francis. Er war nicht nur sein großer Bruder, sondern auch der einzige Freund, den er hatte und er wusste, dass er es nicht ertragen würde, wenn er sehen musste, wie seine Mutter ihn zur Tür hinaus schickte. Also gut, 20 Minuten, hörte Sammy seine Mutter sagen. Ihren wütenden Unterton in ihrer Stimme versuchte sie dabei nicht zu verbergen. Sammys Herz machte einen Sprung, als wenige Sekunden später die Tür aufging und sein Bruder eintrat. Francis sah Sammy sehr ähnlich, war allerdings kräftiger und sein Haar war bereits schulterlang, ein weiterer Punkt, der Frau Clerent an ihrem ältesten Sohn störte. Francis musterte seinen Bruder besorgt, schloss dann langsam die Tür und setzte sich zu ihm. Was ist passiert?, fragte er mit sanfter Stimme, auch wenn er die Antwort bereits kannte. Sammy hatte ihn oft heimlich angerufen, um sich seine Last von der Seele zu reden. Der Jüngere schaute zu Boden und wieder tobte eine Welle aus Tränen in ihm hoch, als er an die Schule dachte. Er kämpfte dagegen an, biss sich auf die Lippe. Er wollte nicht schon wieder weinen, nicht vor seinem Bruder. Doch es gelang ihm nicht. In seiner Verzweiflung fiel er seinem Bruder in die Arme und wieder rannen Tränen über sein Gesicht. Zunächst war Francis erschrocken über die Reaktion auf seine Frage. Er hatte nicht geahnt, dass es Sammy so schlecht ging. Wenige Minuten später hatte sich Sammy ein wenig beruhigt, aber bei dem Versuch seinem Bruder von dem Vormittag zu erzählen, versagte seine Stimme. Du musst nicht reden, sagte Francis und hielt weiter die Hand des Jungen. Er wollte ihm helfen und es tat ihm in der Seele weh, dass er im Moment nichts weiter für ihn tun konnte, um ihm den Halt zu geben, den Sammy jetzt brauchte. Ich hasse mich, murmelte Sammy leise. Wofür?, fragte Francis einfühlsam. Sammy stand auf und ging ans Fenster. Einige Minuten starrte er auf den grauen Hinterhof der Plattenbausiedlung, beobachtete eine Frau die in großer Eile ihre Wäsche in einen Korb legte, um sie vor dem beginnenden Regen zu schützen. Die Jungs, die auf dem kleinen Rasenplatz Fußball spielten, da störte der Regen nicht. Eifrig schossen sie sich den Ball zu. Sammy konnte ihre Lebensfreude sehen, ihr Lachen fast hören. Ich hasse mich für alles, was ich bin. Dafür, dass ich ständig der Beste bin, immer von allen als Genie bezeichnet werde. Dafür, dass ich schwach bin und nicht einmal diese verdammten Tränen zurückhalten kann, er drehte sich zu seinem Bruder um und fügte mit bitterer Stimme hinzu: Warum sehen alle in mir immer nur das Wunderkind? Ich bin doch noch mehr, als nur eine Anhäufung von Hirnzellen, die in einem Körper integriert wurden. Verdammt ich habe eine Seele! Du musst dich nicht hassen. Weißt du, als ich etwa in deinem Alter war, habe ich auch oft geweint. Meistens nachdem ich mit unserer Mutter gestritten habe. Dann lag ich im Bett, schaute aus dem Fenster und weinte. Ihre Worte waren manchmal sehr verletzend. Aber das hörte auf, als ich die Gitarre zum Geburtstag geschenkt bekam. Sammy sah verwirrt zu seinem Bruder. Er verstand nicht, was eine Gitarre damit zu tun hatte. Wie konnte ein Instrument Tränen versiegen lassen? Schließlich waren es doch nur Saiten, die auf einen Holzrahmen gespannt waren. Sein Bruder lächelte, als er den fragenden Blick in Augen des Jüngeren sah. Komm morgen nach der Schule ins Funkhaus. Dann werde ich dir zeigen, was ich meine. Auch wenn Sammy wusste, dass er seine Mutter dafür anlügen musste, u. er hasste Lügen noch mehr als sich selbst, sagte er zu. Wenige Minuten später verließ Francis die Wohnung und noch beim Abendessen musste Sammy sich die Worte seiner Mutter anhören, dass er sich auf keinen Fall von seinem Bruder beeinflussen lassen dürfe. Als Sammy am nächsten Tag vor dem Funkhaus stand, drang laute Musik ins Freie und er wartete ab, bis die Band einen kleine Pause einlegte, bevor er klingelte. Kurze Zeit später öffnete Francis die Tür und bat ihn in den Proberaum, indem die anderen Mitglieder der Band dabei waren ihre Instrumente an die Wand zu stellen. Danach verließ einer nach dem anderen den Raum, bis nur noch Sammy und Francis zurückblieben. Setz dich, sagte Francis und zeigte auf das leicht durchgesessene Sofa in der Ecke des Raumes. Dann verschwand er in einem kleinen Nebenzimmer und als er zurückkam hatte er einen Gitarre bei sich. Sammy erkannte sie sofort wieder. Es war jene Gitarre, die er vor acht Jahren von ihren Eltern zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, wenn auch unter starkem Protest der Mutter. Man sah ihr das Alter deutlich an, das Holz hatte unzählige Kratzer und an einigen Stellen blätterte bereits die schwarze Lackierung ab. Du erinnerst dich an sie? Sammy nickte. Ich habe sie damals Melodie getauft und so nenne ich sie auch heute noch, auch wenn ich nur noch selten auf ihr spiele. Ich möchte dir ein paar einfach Griffe beibringen, dann wirst du ver-stehen, was ich dir gestern gesagt habe. Die beiden Brüder verbrachten nun fast vier Stunden in dem kleinen Probe-raum. Hatte Sammy den Raum am Anfang noch als kalt empfunden und das Verlangen gehabt in das obere Stockwerk zu gehen, so fühlte er sich jetzt wohl und genoss die sanften Klänge der alten Gitarre. Er lernte seine ersten einfachen Melodien und kurze Lieder. Kurz bevor nun Sammy aufstand und nach Hause gehen wollte, sagte er zu Francis: Ich frage mich, was das für ein seltsames Gefühl ist. Wie fühlst du dich denn?, fragte sein Bruder mit einem Lächeln auf den Lippen. Irgendwie befreit, antwortete Sammy. Das ist genau das, was ich versucht hab dir gestern zu erklären. Während du Melodie gespielt hast, hast du mit ihr gesprochen. Du wirst es niemals schaffen an zwei Tagen genau gleich zu spielen, denn deine Gefühle spiegeln sich in der Musik wieder. Melodie wird daher immer wissen, wie du dich fühlst, auch wenn du es anderen nicht zeigen willst oder kannst. Sie hat mir immer sehr geholfen und sie hat auch für mich geweint. Ich denke es ist an der Zeit, dass sie dir zur Seite steht und ich bin davon überzeugt, sie wird dir auch ebenso helfen wie mir. Willst du damit sagen, dass ... Ja, sie gehört jetzt dir. Du kannst immer hier her kommen und sie spielen. Sammys Augen leuchteten. Nicht nur weil er sich unbeschreiblich über die Gitarre so freute, sondern auch, weil er nun verstanden hatte, was sein Bruder ihm einen Tag zuvor gesagt hatte. Von dem Tag an kam Sammy regelmäßig ins Funkhaus und erzählte Melodie von seinen Gefühlen und sie ließ ihre Töne als Antwort so erklingen. Manchmal weint sie auch ganz leise für ihn. Gitarristen weinen nicht, ihre Gitarren tun‘s für sie.

 

 

 

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196.  ©Guitarists don't cry

 

How he hated her, how he hated himself for who he was. Sammy dropped onto his bed and buried his face in the pillow. He had been able to hold back tears at school and in front of his mother, but now that he was alone he gave up the desperate fight. They ran hot over his cheeks and dried up in the pillows. The words of his classmates still echoed in his ears. Girls, girls, they had called as he passed them at the school gate. They had called him nerd when he got a one again and the teacher praised the 14 year old in heaven. Why couldn't they finally leave him alone? He had never done anything to them and what could he do for who he was? Since he went to school, he has endured the teasing of his classmates. Every day, and since his teacher had sent him on an IQ test that gave him well above average, things had gotten worse. But it wasn't just his good grades and his ability to absorb everything new that made life difficult for him. His appearance also made him a victim of the malicious jokes of his classmates. His quite large, but at the same time petite figure made him look fragile. The chin-length black hair emphasized his slightly feminine features. Sure, he could have cut himself off, but then he would also lose the only protection from the eyes of his classmates. He also knew how much his mother hated the long hair. They were the only possibility for Sammy to offer a little resistance, because his mother's fear that something might happen to her little darling was like hysteria. She always said she wanted to encourage him. But the real reason for the myriad of tasks she gave him was different. She wanted to keep him away from his six years older brother Francis, who in her eyes was the worst company for her little Sammy. At 18 he had dropped out of school and moved with his band into an old broadcasting house. He had always had a big heart for music. He had never wanted to graduate from high school and was now involved in the social field. The brothers had always got on well and since Mrs. Clerent already had very precise plans for the future for the younger one, he should become a doctor, she tried by all means to prevent Sammy from even thinking of emulating his brother here. After a while, Sammy fell asleep. He was finished, physically and mentally. The boy didn't wake up until he heard an argument in the hallway. He recognized the two voices immediately. It was his mother and Francis. The argument grew louder, at least on Ms. Clerent's side. Sammy covered his ears. He didn't want to hear it anymore and he couldn't either. For years he had had to overhear the arguments between the two of them, almost every evening they had yelled at each other when Sammy was in bed. The subject had always been the same. Francis was lazy, according to the mother, not exerting himself enough and only had his music on his mind. Sammy had often wondered if they had known that he could hear everything through those thin walls. After a while the argument stopped and there was a strange silence. He wondered if he should open the door a crack to see what was going on in the hallway, but then let it go. He liked Francis. Not only was he his big brother, but he was the only friend he had and he knew he couldn't take it if he had to see his mother send him out the door. All right, twenty minutes, Sammy heard his mother say. She tried not to hide the angry undertone in her voice. Sammy's heart jumped a few seconds later when the door opened and his brother entered. Francis looked a lot like Sammy, but was heavier and his hair was shoulder length, another thing Mrs. Clerent bothered about her eldest son. Francis eyed his brother worriedly, then slowly closed the door and sat down with him. What happened? He asked in a soft voice, even though he already knew the answer. Sammy had often secretly phoned him to get rid of his burden. The younger one looked at the floor and again a wave of tears raged up in him when he thought about school. He struggled against it, bit his lip. He didn't want to cry again, not in front of his brother. But he didn't succeed. In desperation, he fell into his brother's arms and tears ran down his face again. At first, Francis was shocked by the response to his question. Little did he know that Sammy was doing so badly. A few minutes later, Sammy had calmed down a bit, but when he tried to tell his brother about the morning, his voice failed. You don't have to talk, said Francis, still holding the boy's hand. He wanted to help him and it hurt his soul that he couldn't do anything for him at the moment to give him the support that Sammy needed now. I hate myself, Sammy mumbled softly. For what? Asked Francis sympathetically. Sammy got up and went to the window. For a few minutes he stared at the gray back yard of the prefabricated housing estate, observed a woman who was in a great hurry to put her laundry in a basket to protect it from the beginning rain. The boys who played soccer on the little grass pitch didn't mind the rain. They eagerly shot the ball to each other. Sammy could see her joie de vivre, almost hear her laugh. I hate myself for all that I am. For always being the best, always being called a genius by everyone. For being weak and not even being able to hold back those damn tears, he turned to his brother and added in a bitter voice: Why does everyone always see me as the child prodigy? I am more than just an accumulation of brain cells that have been integrated into a body. Damn i have a soul! You don't have to hate yourself. You know, when I was around your age, I cried a lot too. Mostly after quarreling with our mother. Then I lay in bed, looked out the window and cried. Her words were very hurtful at times. But that stopped when I got the guitar for my birthday. Sammy looked at his brother, confused. He didn't understand what a guitar had to do with it. How could an instrument dry up tears? After all, it was just strings stretched on a wooden frame. His brother smiled when he saw the questioning look in the younger man's eyes. Come to the radio house tomorrow after school. Then I'll show you what I mean. Even though Sammy knew he had to lie to his mother for it, and he hated lies even more than himself, he said yes. A few minutes later, Francis left the apartment and at dinner, Sammy had to listen to his mother's words that he should not be influenced by his brother under any circumstances. When Sammy was standing in front of the broadcasting house the next day, loud music came outside and he waited until the band took a short break before ringing the doorbell. A short time later, Francis opened the door and asked him into the rehearsal room, where the other members of the band were about to put their instruments on the wall. Then one by one left the room until only Sammy and Francis remained. Sit down, said Francis, pointing to the sagging sofa in the corner of the room. Then he disappeared into a small adjoining room and when he came back he had a guitar with him. Sammy recognized her immediately. It was the guitar that his parents gave him for Christmas eight years ago, albeit with strong protest from his mother. You could see its age clearly, the wood had innumerable scratches and in some places the black paint was already peeling off. Do you remember her? Sammy nodded. Back then I named it Melody and that's what I still call it today, even if I rarely play it. I want to teach you a few simple moves, then you will understand what I told you yesterday. The two brothers now spent almost four hours in the small rehearsal room. At the beginning Sammy had found the room to be cold and had the desire to go to the upper floor, now he felt comfortable and enjoyed the gentle one Sounds of the old guitar. He learned his first simple melodies and short songs. Just before Sammy got up and was about to go home, he said to Francis: I wonder how strange it is. How are you feeling? His brother asked with a smile on his face. Somehow liberated, Sammy replied. That's exactly what I was trying to explain to you yesterday. While you were playing melody, you were talking to her. You will never be able to play exactly the same on two days, because your feelings are reflected in the music. Melody will therefore always know how you feel, even if you don't want to or can't show it to others. She always helped me a lot and she cried for me too. I think it's time for her to be by your side and I am convinced she will help you as well as me. Are you saying that ... Yes, she is yours now. You can always come here and play it. Sammy's eyes lit up. Not only because he was indescribably happy about the guitar, but also because he had now understood what his brother had said to him the day before. From that day on, Sammy came regularly to the radio house and told Melody about his feelings and she let her tones sound like this in response. Sometimes she also cries very quietly for him. Guitarists don't cry, their guitars do it for them.