68.  ©Der fremde Tote

 

Wie stets parke ich meinen bejahrten nachtblauen VW Käfer hinter der alten stillgelegten Fabrik auf dem von Unkraut überwucherten Parkplatz. Hundert Meter weiter, nach einer letzten Biegung, tauchen die ersten Häuser des kleinen Dorfes auf, in dem ich aufgewachsen bin. Es ist kurz nach Mitternacht und nicht damit zu rechnen, dass noch Menschen auf der Straße anzutreffen sind. Ich möchte nicht gesehen werden, auch wenn mich in der Dunkelheit kaum jemand erkennen würde. Dennoch könnte eine schlaflose Seele irgendwo am Fenster stehen und mich beobachten. Eine einsame Gestalt im langen schwarzen Mantel, die durch die ausgestorbenen nächtlichen Straßen des Ortes streift. Das erweckt Aufsehen, und wer sich langweilt, der greift schnell einmal nach dem Telefon, um die Polizeistation von Mölzen, einer größeren Ortschaft in der Nähe, zu verständigen. Natürlich habe ich nichts Ungesetzliches vor, dennoch könnten meine nächtlichen Besuche in Ernheim falsch aufgefasst werden. Außerdem reden die Leute gerne. Gar, wenn so etwas Merkwürdiges in einem Ort geschieht, wo sich eigentlich nie etwas von Bedeutung ereignet, an der Oberfläche wenigstens. Denn weiter unten, gut versteckt unter Recht schaffenheit und Ordnung, da gibt es schon düstere Geheimnisse. Doch sie sind die Sache der kleinen Gemeinschaft in diesem idyllischen Dorf. Seit Generationen schon, und Außenstehende gehen diese nichts an. Für sie ist Ernheim ganz einfach eines dieser entzückenden Dörfer in einem außerordentlich grünen, blühenden Tal im Mittelland. Nun, ich bin nicht hier, um bei den Bewohnern für Aufregung oder sogar Unfrieden zu sorgen. Ich bin hier, ja, warum eigentlich? Vielleicht, weil ich ein bisschen verrückt bin; vielleicht, weil ich einsam bin; vielleicht, weil ich die Einsamkeit als Freundin betrachte. Ich komme in der Nacht, um die Tage meiner Kindheit aufleben zu lassen, Erinnerungen aufzufrischen. Und vor Anbruch der Morgenröte kehre ich zurück in meine kleine Wohnung in der Stadt, meist versorgt mit Ideen und Anregungen für gruselige Geschichten, die ich an verschiedene Magazine verkaufe. Davon lebe ich ganz gut. Und auf diese Weise bin ich nicht mehr gezwungen, mich Tag für Tag in einem Büro hinter mein Pult zu setzen und Anweisungen von Vorgesetzten auszuführen für Geschäfte, die mich nicht im Geringsten interessieren. Mein Einkommen ist nicht hoch, doch reicht es, um mir meine Freiheit zu erhalten. Das mag auch der Grund sein, weshalb ich seit einigen Wochen immer wieder hier auftauche, hier, in diesem Dorf, wo ich aufgewachsen bin, wo ich niemals wirklich glücklich gewesen bin. Aber auch das ist nichts Außergewöhnliches, denn ich war auch sonst nirgends glücklich. Na ja, das ist vielleicht etwas übertrieben, denn ich lebe eigentlich ganz angenehm, habe ein paar wenige, aber sehr enge Freunde. Mit meiner Familie, die ich nur sporadisch sehe, komme ich auch gut aus. Aber damals, als Kind, war ich meiner Meinung nach äußerst unfrei, eng eingebunden in verschiedene Strukturen wie Familie, Turnverein, Schule und so weiter und so fort. Wie auch immer, jetzt komme ich manchmal hierher, schlendere durch die engen Straßen und Gassen, vorbei am einzigen Lebensmittelgeschäft, an der Schule, an Häusern, wo Verwandte von mir lebten und wo deren Nachkommen vielleicht noch oder wieder wohnen. Das Schöne an diesen Ausflügen ist, dass ich kommen und gehen kann, wie es mir beliebt. Es gibt niemanden, der mir sagt, was ich zu tun, wie ich mich zu benehmen habe. Ich bin frei. Als ich das endlich erkannte, dass ich frei war meine ich, da verlor ich auch einige der Ängste, die mich als Kind gequält hatten. Angst vor Dunkelheit, Angst vor Beschimpfungen, Angst vor dem Alleinsein, Angst vor dem Leben überhaupt. Wenn ich zum dann Friedhof komme, dann leuchte ich mit meiner feinen Taschenlampe die Namen, Geburts- und Todesdaten ab. Sie alle, die hier ruhen, haben eine gewisse Zeit auf unserer Welt verbracht, dann sind sie gegangen. Was mich betrifft, ich möchte nicht auf einem Friedhof beigesetzt werden, denn dann müsste ich mich wieder Regeln unterwerfen, was ich nie gemocht habe. Vielleicht aber ändert sich das noch im Laufe meines Lebens, denn eigentlich ist es doch schön, einer Gemeinschaft anzugehören, auch wenn man dann nicht mehr ganz so frei ist. Überhaupt muss ich in Zukunft tiefer, ernsthafter über diesen so verlockend klingenden Begriff 'Freiheit' nachdenken. Es könnte doch sein, dass er für Feigheit oder Einsamkeit steht? Aber zurück zum Friedhof. Sie glauben nicht, dass es für Tote auf Friedhöfen Regeln gibt? Da irren Sie sich, und zwar ganz gewaltig. Dieser friedlich anmutende Garten der Toten beherbergt ganz normale Menschen, die ihr Leben gelebt, ihre Pflichten erfüllt haben, schließlich in Würde hier begraben wurden. Und dann liegen hier noch wirkliche Verbrecher, die Leben zerstört haben, Mörder, Vergewaltiger und dergleichen. Wie büßen wohl solche Leute nach ihrem Tod? Das interessierte mich schon ziemlich. In meinen Gruselgeschichten nämlich, da werden die Seelen von Verbrechern meistens von ihren einstigen Opfern gequält bis in alle Ewigkeit. Das klingt nicht schön, sondern viel zu einfach. Außerdem wird damit nicht im Geringsten erklärt, weshalb Menschen andere Menschen oder Tiere quälen, ja gar töten. Aber bis dahin wusste ich es nicht besser; außerdem schien diese Art der Bestrafung logisch: Wenn dich jemand quält, dann räche dich an ihm! Ich wurde glücklicherweise eines Besseren belehrt. Der Ernheimer Friedhof beherbergt übrigens auch einige Leute, die ich gut gekannt habe. Meinen Pflegevater zum Beispiel. Ich habe ihn sehr geliebt. Sein Tod, oder vielmehr sein langes trauriges Sterben, schmerzt noch immer; obwohl eine Stimme tief in mir drin schon früh, direkt nach Papas Tod versicherte, dass er es so gewünscht hatte. Er war ein sensibler, von vielen schmerzhaften Krankheiten gequälter Mensch gewesen. Manchmal träume ich von ihm. Dann wirkt er stets gelassen, von einem stillen Glück erfüllt. Er kann wieder sehen und Krippen, kleine Puppenhäuser und wunderschön verzierte hölzerne Blumentröge anfertigen. Der konzentrierte Ausdruck dann in seinem fein gemeißelten Gesicht beruhigt mich stets in diesen freundlichen Träumen. Auch seine Eltern, also die Großeltern, liegen hier begraben. Sie erscheinen mir jedoch nie im Traum. Dennoch denke ich hin und wieder an sie. Er, ein netter ruhiger weiß-haariger Mann, beinahe gehörlos, mit einem verschmitzten trockenen Humor. Sie, resolut und fast bösartig, doch herzlich, wenn es die Situation erforderte. Eigentlich hatte ich mich immer ein wenig vor ihr gefürchtet, außer in ihrer letzten Zeit, da wurde ihre Gestalt so klein und dünn wie ihre Stimme. Manchmal war sie ziemlich verwirrt und wähnte sich als junges Mädchen, das noch im Basler Nobelhotel. Zum vollen Mond, das Silber in der Küche polierte. Und dann ist da natürlich noch Raoul, meine erste Liebe aus Kindheitstagen.

 

 

 

Zurück

zu Geschichten

 

 

https://translate.google.com/English

68.  ©The stranger dead

 

As always, I park my aged midnight blue VW Beetle behind the old, disused factory in the weed-overgrown parking lot. A hundred meters further on, after one last bend, the first houses of the small village where I grew up appear. It is shortly after midnight and it is not to be expected that people will still be found on the street. I don't want to be seen, even if hardly anyone would recognize me in the dark. Still, a sleepless soul could stand by the window somewhere and watch me. A lonely figure in a long black coat roaming the deserted nocturnal streets of the town. This causes a stir, and if you are bored, you quickly reach for the phone to call the police station in Mölzen, a larger town nearby. Of course, I have nothing illegal in mind, but my nocturnal visits to Ernheim could be misunderstood. Plus, people like to talk. Indeed, when something strange happens in a place where nothing of importance actually happens, at least on the surface. Because further down, well hidden under law and order, there are already dark secrets. But they are the business of the small community in this idyllic village. For generations, and these are none of our business. For them, Ernheim is quite simply one of those delightful villages in an extraordinarily green, blooming valley in the Central Plateau. Well, I'm not here to cause any upset or even strife among the residents. I am here, yes, why actually? Maybe because I'm a little crazy; maybe because I'm lonely; maybe because I see loneliness as a friend. I come at night to relive the days of my childhood, to refresh memories. And before dawn I return to my little apartment in the city, usually provided with ideas and suggestions for creepy stories that I sell to various magazines. I live quite well on it. In this way, I am no longer forced to sit behind my desk in an office every day and carry out instructions from superiors for transactions that are of no interest to me. My income is not high, but it is enough to keep my freedom. That may also be the reason why I have been showing up here again and again for the last few weeks, here, in this village where I grew up, where I have never been really happy. But that's not unusual either, because I wasn't happy anywhere else either. Well, that's maybe a bit of an exaggeration, because I actually live quite comfortably, have a few, but very close friends. I get along well with my family, whom I only see sporadically. But back then, as a child, I was, in my opinion, extremely unfree, closely involved in various structures such as family, gymnastics club, school and so on and so forth. Anyway, now I come here sometimes, strolling through the narrow streets and alleys, past the only grocery store, the school, and houses where relatives of mine lived and where their descendants may still or will live again. The beauty of these trips is that I can come and go as I please. There is no one to tell me what to do, how to behave. I am free. When I finally realized that I was free, I mean, I lost some of the fears that plagued me as a child. Fear of the dark, fear of verbal abuse, fear of being alone, fear of life in general. When I get to the cemetery then, I use my fine flashlight to light up the names, dates of birth and death. All of you who are resting here have spent some time in our world, then they have gone. As for me, I don't want to be buried in a cemetery because then I would have to submit to rules again, which I never liked. But maybe that will change in the course of my life, because actually it's nice to belong to a community, even if you are no longer quite as free. In general, I have to think deeper, more seriously about this tempting-sounding term 'freedom' in the future. Couldn't it mean cowardice or loneliness? But back to the cemetery. Don't you think there are rules for dead in cemeteries? You are wrong, and very much wrong. This seemingly peaceful Garden of the Dead is home to normal people who have lived their lives, fulfilled their duties, and were finally buried here with dignity. And then there are real criminals who have destroyed lives, murderers, rapists and the like. How do you think such people atone for their death? I was quite interested in that. In my scary stories, namely, the souls of criminals are mostly tormented by their former victims for all eternity. That doesn't sound nice, it sounds way too easy. In addition, it does not explain in the slightest why people torture or even kill other people or animals. But until then I didn't know any better; Moreover, this type of punishment seemed logical: if someone torments you, take revenge on him! Fortunately, I was taught better. Incidentally, the Ernheimer Friedhof also houses some people I knew well. My foster father, for example. I loved him very much. His death, or rather his long sad dying, still hurts; although a voice within me assured me early on, right after Papa's death, that he had wished it that way. He had been a sensitive person, tormented by many painful diseases. Sometimes I dream about him. Then he always appears calm, filled with a quiet happiness. He can see again and make nativity scenes, small dollhouses and beautifully decorated wooden flower troughs. The concentrated expression on his finely chiseled face always calms me down in these friendly dreams. His parents, i.e. his grandparents, are also buried here. However, they never appear to me in a dream. Still, I think of her every now and then. He, a nice, calm, white-haired man, almost deaf, with a mischievous, dry sense of humor. You, resolute and almost vicious, but cordial when the situation required it. Actually, I was always a little afraid of her, except in her last time, when her figure became as small and thin as her voice. Sometimes she was quite confused and thought she was a young girl who was still in a luxury hotel in Basel. To the full moon polishing silver in the kitchen. And then of course there is Raoul, my first childhood love.