30.  ©Milena

 

Meine große Liebe heißt Milena. Sie ist eine kohlschwarze Vollblutstute mit der Seele eines Kolibris: auf der einen Seite zickig und schreckhaft, auf der anderen Seite geduldig und unglaublich lieb. Ein Blick aus ihren großen braunen Augen, ein Stupser mit der weichen Pferdenase, ich schmelze dahin. Ursprünglich für die Rennbahn gezüchtet wurde Milena bereits im zarten Alter von zwei Jahren von ihrer Züchterin ausgemustert. Wegen einer leichten Fehlstellung der Vorderbeine war sie für die große Rennkarriere nun nicht geeignet. Stattdessen sollte sie die Laufbahn eines Reitschulpferdes beschreiten u. fortan Reitschüler auf ihrem Rücken tragen. Täglich wechselnde Reitschüler durch die Halle zu tragen und ihre unbeholfenen Putz und Sattelversuche über sich ergehen zu lassen, empfand Milena jedoch offenbar als unter ihrer Würde. Als Tochter eines bekannten Vollbluthengstes war sie doch schließlich zum Rennen geboren. Also rannte sie! Bei jeder Gelegenheit, in jeder Reitstunde, auf jedem noch so holprigen Geländeweg wollte Milena ihre Schnelligkeit unter Beweis stellen. Die Reitschüler kugelten reihenweise durch das Sägemehl, wenn die schwarze Hexe wieder einmal einen ihrer berühmten Schnellstarts hinlegte und hakenschlagend durch die Halle fegte. Obwohl auch ich zu denjenigen gehörte, die den Hallenboden des Öfteren aus nächster Nähe betrachten durften, verliebte ich mich in Milena. Ich bekniete meinen Reitlehrer so lange, bis er sich bereit erklärte mir die Stute zu verkaufen. Die Tatsache, dass Milena manches Mal ohne Reiter von den täglichen Ausritten zurückkehrte, mag seine Entscheidung beschleunigt haben. Von da an war Milena ein stolzes Privatpferd und genoss die neu gewonnene Freiheit in vollen Zügen. Die Idylle währte jedoch nicht lange. Eines Tages, als wir auf dem Weg zur Koppel die Hauptverkehrsstraße entlang wanderten, kam uns ein orangefarbener Lastwagen entgegen. Von Natur aus schreckhaft geriet Milena, der die dröhnenden Blechriesen von jeher unsympathisch waren, in Panik. Obwohl der Fahrer des Lastwagens die Angst meines Pferdes erkannte und heftig auf die Bremse trat, riss Milena sich los und prallte noch im Herumwirbeln mit dem Lastwagen zusammen. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich mein blutendes Pferd allein Richtung Stall galoppieren sah. Die äußerlichen Verletzungen, die Milena sich zugezogen hatte, wurden genäht und waren bald verheilt. Auch die an dem Lastwagen entstandenen Dellen konnten schnell wieder ausgebeult werden. Was schwerer wog waren die psychischen Schäden, die Milena davon getragen hatte. Wann immer sie das Geräusch eines laufenden Motors hörte, geriet sie derart in Hysterie, dass sie versuchte sich los zu reißen und davon zu stürmen. Da ich meistens diejenige war, die an den Zügeln hing, wenn mein Pferd die Flucht ergriff, horchte ich bald an jeder Straßenecke, ob auch nur das leiseste Motorgeräusch zu hören war. Selbst wenn ich ohne Pferd unterwegs war, richtete ich immer ein Ohr auf die Straße. Bald konnte ich sämtliche Motorfahrzeuge dem Klang nach unterscheiden. Selbst im Traum erschienen mir Lastwagen jeglicher Art. Da es so nicht weitergehen konnte, zog Milena schließlich um in einen autofreien Stall, wo sie erst einmal zur Ruhe kommen sollte. Als wir nach eineinhalb Jahren in die motorisierte Zivilisation zurückkehrten, hatte sich Milenas Angst zumindest gebessert. Gewöhnliche PKWs akzeptierte sie nun, alle größeren Fahrzeuge waren nach wie vor gefährlich. Heute, zehn Jahre später, genießt Milena ihr Rentnerdasein auf einem Bauernhof. Laufende Traktoren und Holzfahrzeuge machen ihr längst keine Angst mehr. Ebenso wenig wie ein PKWs und Motorroller. Und auch ich kann lastwagenfreie Träume genießen. Obwohl mich Milena auch heute mit ihren neunzehn Jahren noch ab und zu allein nach Hause laufen lässt, habe ich durch sie doch mehr gelernt als ich je für möglich gehalten hätte. Ich danke dem Schicksal, das uns beide zusammengeführt hat.

 

 

 

Zurück

zu Geschichten

 

 

https://translate.google.com/English

 

30.   ©Milena

 

My big love is Milena. She is a jet black thoroughbred mare with the soul of a hummingbird: on the one hand bitchy and jumpy, on the other hand patient and incredibly sweet. A look out of her big brown eyes, a nudge with the soft horse nose, I melt away. Originally bred for the racetrack, Milena was retired by her breeder at the tender age of two. Because of a slight misalignment of the front legs, it was not suitable for the great racing career. Instead, she should pursue the career of a riding school horse and henceforth carry riding students on her back. However, Milena apparently felt that carrying riding schoolchildren through the hall that changed every day and enduring their clumsy cleaning and saddle attempts was beneath her dignity. As the daughter of a well-known thoroughbred stallion, she was born to race after all. So she ran! At every opportunity, in every riding lesson, on every rough terrain, Milena wanted to prove her speed. The riding students rolled through the sawdust in rows when the black witch once again made one of her famous quick starts and swept through the hall with hooks. Although I was one of those people who were often allowed to look at the hall floor up close, I fell in love with Milena. I bowed to my riding instructor until he agreed to sell the mare to me. The fact that Milena sometimes returned from daily rides without a rider may have hastened his decision. From then on, Milena was a proud private horse and enjoyed her newfound freedom to the full. However, the idyll did not last long. One day as we were walking along the main road on the way to the paddock, an orange truck came towards us. Scared by nature, Milena, who had always been unsympathetic to the roaring tin giants, panicked. Although the driver of the truck recognized my horse's fear and stepped hard on the brake, Milena tore herself free and collided with the truck while spinning around. My heart almost stopped when I saw my bleeding horse gallop alone towards the stable. The external injuries that Milena sustained were stitched up and soon healed. The dents on the truck were also quickly bulged again. What weighed heavier was the psychological damage that Milena had suffered. Whenever she heard the sound of a running engine, she got so hysterical that she tried to tear herself away and storm away. Since I was mostly the one who was on the reins when my horse ran away, I was soon listening on every street corner for the slightest noise from the engine. Even when I was out without a horse, I always kept an ear to the road. Soon I was able to distinguish all motor vehicles by their sound. Even in dreams I saw trucks of all kinds. Since it couldn't go on like this, Milena finally moved to a car-free stable, where she was supposed to come to a rest. When we returned to motorized civilization after a year and a half, Milena's fear had at least improved. She accepted ordinary cars now, all larger vehicles were still dangerous. Today, ten years later, Milena is enjoying her retirement on a farm. Running tractors and wooden vehicles have long since stopped worrying her. Just as little as a car or scooter. And I can enjoy truck-free dreams too. Although Milena still lets me walk home on my own at the age of nineteen, I have learned more from her than I ever thought possible. I thank fate that has brought us both together.