25.  ©Krippenspiele

 

Vielleicht war es die Krippe, die meine Großmutter meiner Mutter vermacht hatte wie ihr einziges Juwel, ein wunderschönes, geschnitztes Stillleben mit vierzig Figuren, überdacht von einem zackigen Kometen, wenig Farben, fern von Kitsch, die mich letztendlich bewog, dieses Päckchen an meinen Vater zu schicken. Sie stand plötzlich in der Diele wie ein zugelaufenes, zutrauliches Haustier, aus der Küche hörte ich kernige Radiostimmen, die Terroristennamen wie schwarz gewordene Plätzchen herumreichten, in der Hand hielt ich ein vibrierendes Handy u. die angsteinflößende Rechnung einer Rohrreinigungsfirma, und ich sah verwirrt die Figuren an, die sich in dieser Krippe wie in einem abgeschlossenen, mit Stroh ausgepolsterten Cockpit des Glücks befanden. Das leuchtende, laternenbehangene Zentrum: Vater plus Mutter plus Kind, ein vollkommenes, perfektes, versiegeltes Ei, wie unter Naturschutz. Wer hatte bei uns das Ei aufgestochen und den Dotter herausgesaugt, fragte ich mich, und irgendwas in mir wollte aufspringen, in Latzhosen, Ringelsocken und Schuhgröße 29 durch die Gänge laufen, weit weg von diesem Glücksarchipel. Das Gang licht hatte die Farbe von Reiseübelkeit. So war das, wenn man nicht mehr im Cockpit saß. Mein Vater war Chirurg in einer bayerischen Unfallklinik, eine Tatsache, von der ich als Kind vor allem durch seine permanente Abwesenheit etwas mitbekam. Meine Mutter ging einmal, als ihr Herz noch an ihm baumelte wie das scheinbar mit seinem Kittel verwachsene Stethoskop, zu einem befreundeten Arzt, ließ sich eine riesige Röntgenaufnahme von ihrem Kniegelenk machen und schickte sie ihm in die Klinik, ihr symbolischer, Willy Brandt gleicher Kniefall, dazu schrieb sie einen langen Text, den ich damals noch nicht lesen konnte. Ihre Absicht, sein Interesse von skelettösen auf familiäre Dinge auszuweiten, schlug fehl, fast schien es, dass er nur noch nach Hause kam, um zu schlafen, die aus meiner Perspektive tankergroßen Poststapel zu sichten oder die zwei knallbunten Koi Karpfen im extra angelegten Gartenteich zu füttern, die er von einem steinreichen Japaner nach einer gelungenen Sprunggelenks Operation geschenkt bekommen hat, und sie waren nun so etwas wie sein schwimmender OP Pokal. Ich hasste die beiden Fische von dem Moment an, an dem ich merkte, dass meine Mutter, ich gegen die gelb, rosa gesprenkelten Tiere in seinen Augen verblassten, vor Normalität ergrauten, ja, lästig waren, weil wir mehr verlangten als Fischfutter und gesunde Gelenke. Ich kann mich nur an ein Weihnachten erinnern, an dem mein Vater da war, und das war gleichzeitig das letzte gemeinsame. Meine Großmutter war aus der Schweiz gekommen, mitsamt Schokoladentalerberge, Dackel Wilhelm Tell und Montblanc großer Besorgnis um die Ehe ihrer Tochter. Von früh bis spät stand sie in unserer sonst kochresistenten Küche, als könnte sie die aufgeklafften Sprünge zwischen den beiden mit geeistem Kaiserschmarrn, Zander auf Wirsing oder Unmengen an Plätzchen zukleistern, lukullisch kitten, las mir mit Frau-Holle-Stimme Charles Dickens vor und meinem Vater im verschneiten Garten zwischen Teich und Biotonne die Leviten. Ich stand in meinem Zimmer am Fenster, in der Hand ein Plätzchen in Form eines Wildschweins, und beobachtete die beiden, sah die Schneeflocken wie Eicheln auf sie herunterrasseln. In dem Moment liebte ich meine Großmutter dafür, dass sie 75-jährig in Schürze und roten Bäckchen, ohne Jacke, mit leichten Hausschuhen inmitten der Schneetürme stand, ich hörte nicht, was sie meinem Vater alles zu sagen hatte, aber ich wusste instinktiv, dass jedes Wort an diesem Gore-Tex-Vater abprallte, dass sie seinen Unwillen potenzierte, wenn das überhaupt noch möglich war. Ich ging die breiten Holztreppen ins Wohnzimmer hinunter, blieb auf halber Höhe stehen und sah meine Mutter, ihre schmale Gestalt, die auch am Fenster stand und verzweifelt lauschte, am Boden neben ihr eine zerbrochene, dickbauchige Christbaumkugel, sie musste gerade beim Schmücken des Tannenbaums gewesen sein. Ich schlich die Treppe wieder hoch, bis ich hörte, wie die Haustür krachte. Ein Koi ist tot! schrie mein Vater, sein Gesicht eine rötlich-weiße Traube, und stürmte die Treppen hoch, ohne mich wahrzunehmen, meine Großmutter kam weit nach ihm ins Haus, die Brille beschlagen, hilflos schnaufend. Meine Mutter klopfte ihr stumm den Schnee von Haar, Schultern und Rücken. Das ist sinnlos, flüsterte meine Großmutter, meine Mutter nickte, und ich ahnte schon, dass es nicht um die Sinnlosigkeit des Schneeabklopfens ging, wo sie bis auf die Haut durchnässt war. Sinnlos war anderes. Ich rannte in den Garten zum Teich und sah den gelben, toten Koi, der schon in einer Holzkiste lag wie ein vom Himmel gepflückter Komet, während der andere unruhig und blassblau im dunklen Wasser zwischen frostigen Seerosenblättern herum zuckelte. Mit gemischten Gefühlen, den Koi Tod betreffend, schwankte ich ins Haus. Um fünf Uhr war dann die Bescherung. Ich hatte mir einen großen Stoffdelphin gewünscht, den ich noch heute habe ich packte in der eisigen Stille zwischen den Erwachsenen das Schäferhund große Paket aus und weinte in die Delphinflossen hinein, froh das es so aussah, als würde die Freude mich überwältigen. Derweil standen im Flur drei große, schlecht gepackte Koffer meines Vaters und warteten geduldig auf seine Abreise wie bestens erzogene Kinder auf das Christkind. Die Pappschachtel mit den gelben, mottigen Styroporchips, die ich im Speicher auf einem Bauernschrank entdeckt hatte, in dem meine Mutter etwa siebenundzwanzig ausrangierte Golfschläger (Dreiereisen, Siebenereisen, Puter, ihr obskures Golfdreigestirn) sowie eine Unmenge an erdigen Bällen, unverarbeiteten Tweedstoffen, verkrustenden Radlacken, freundlich abgenutzten Beilagscheiben sowie diese Straßenkarten anno 1965 aufbewahrte wie eine verkleckste Lithographie ihrer Jugend, ließ sich nicht mehr halten und polterte krampfhaft neben mir auf den Holzboden. Der Deckel flog auf, im Bruchteil einer Sekunde stand ich in einem gelben, sanft einnebelnden Rough, eine transparente Plane, einst zum Abdecken des Nähmaschinenarsenals meiner Großmutter benutzt, löste sich von der Schrankdecke und umhüllte mich in dem wilden Gestöber wie eine modernde, erstickende Schneekugel. Als ich ein paar Minuten und Spinnenattacken später, eine gelbe Chipspur hinter mir her ziehend, ins warme, penibel aufgeräumte Wohnzimmer pirschte, lag meine Mutter auf der Couch in therapeutischer Horizontalen und sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen eine Gesundheitssendung an, in der Kräuter angepriesen wurden. Allein das Wort Gesundheit, das wusste ich nur zu gut, machte sie, die für ein Ärztejournal arbeitete, schon krank. Es duftete nach trotzigem, wagnerianischem Dresdner Stollen und Mandarinen Plasma. Fündig geworden? fragte sie abwesend, während ihre dunklen Augen einen Löwenzahnendoskopen genussvoll erdolchten, ihn mit Rapsöl übergossen und zwischen die violett grünen Salatblätter schleuderten. Ich nickte, überlegte mir, ob ich sie vorsichtig auf das Chaos ihrer Speicherschränke ansprechen sollte, entschied aber mit Blick auf den schillernden Weihnachtsbaum neben dem hier offenen Kamin, dass der 22. Dezember eindeutig kein Tag war, um über Banalitäten wie quirlige Spinnennester in Golfballtüten zu reden, und legte nun stattdessen die leere Schachtel auf den Teppich wie ein Sparschwein, von dem ich hoffte, dass es gefüllt wurde. Die Adresse, sagte ich hoffnungsvoll bis vorwurfsvoll. Weißt du denn schon, was du ihm schenken willst? fragte sie, sich hier plötzlich interessiert aufsetzend, obwohl tanzende Thymianpixel um ihre mörderische Aufmerksamkeit buhlten. Ich schüttelte den Kopf so, als könnte ich mir damit selbst den Gedanken, ihm etwas zu schenken, ausradieren. Vielleicht nur den leeren Karton. Heiße Luft, das wäre doch passend. Wir sahen uns an, Mutter und Tochter, im Blick reine, destillierte Vergangenheit, viel Verletzung, ein bisschen Pflaster, ein bisschen Schorf, ein bisschen Narbe und viele heilende Jahre. Ich wüsste da was Besseres. Sie schnitt eine Grimasse, sprang dennoch auf und holte aus ihrem Zimmer ihr rotes Adressbuch u. einen dicken schwarzen Filzstift. Ich schrieb die neue Frankfurter Adresse auf einen Postaufkleber und ärgerte mich, dass meine Hände dabei zitterten. Vor allem, dass meine Mutter es sah. Aber meinem Vater schrieb ich nun mal nicht alle Tage. Im Grunde war es das erste Mal, und das mit 21.  Ein Spätzünder in Sachen Vaterliebe? Er war nicht lange an der Unfallklinik geblieben, er wechselte nach München ins Uniklinikum rechts der Isar, kaufte im Lehel eine viel zu große Eigentumswohnung mit einem schwimmbadgroßen Bassin für den Koi-Waisen, und nun meldete sich nur telefonisch, wenn es denn unbedingt nötig war. Erst viele Jahre später, als ich schon in der Mittelstufe war, sah ich ihn wieder, ohne Vorwarnung, bei einem Ausflug unserer Klasse in die Münchner Glyptothek, in Begleitung einer blonden, großen, einen beigen Trenchcoat tragenden Frau. Sie hing lasziv an seiner Schulter, deutete kichernd auf die Genitalien der griechischen Statuen, flüsterte ihm unablässig ins Ohr und schien seine Aufmerksamkeit zu zweihundert Prozent einzufordern, wie ein guter, ordentlicher Splitterbruch. Ich stand mit ein paar Schulfreund-innen und dem bemühten, in sein schwarzes Barthaar schwitzenden Lateinlehrer vor der Davidstatue, ohne noch ein Wort von seinen drögen Ausführungen in puncto Statik und Proportionalität mitzubekommen. Was ist los? flüsterte schließlich Nina, alarmiert durch mein minutenlanges Schweigen und den starren Blick, der durch Davids Oberschenkelhals hindurch glitt. Nichts. Ich suchte meinen Vater zwischen den grauen Plastikbeinen, aber er war verschwunden. Ich geh mal auf die Toilette, murmelte ich, während Herrn Pachert der kaugummiaustauschenden Klasse die Bedeutung des Eros in der griechischen Kunst nahe zu bringen versuchte. Ich wollte einfach nur kurz allein sein. Nur allein. Ich sperrte mich in eine Kabine und lehnte mich von innen gegen die Tür wie einen ausrangierten Schneeschaufel. Kurz darauf hörte ich die Tür zu den Damentoiletten ins Schloss fallen und heftiges Kichern. Schließ von innen ab!, keuchte eine vertraute männliche Stimme. Es klickte, die raue Stimme beteuerte, wie scharf sie auf die Frau wäre, während die Frau, entsetzt oder erfreut, stöhnte, ein Hemdenknopf rollte über den Boden in meine Kabine, ich hörte diverse Schnallen und Haken aufschnappen und feuchte, fordernde Küsse. Ein beiger Mantel fiel auf den Boden. Wie in Trance öffnete ich die Tür, ich sah durch den Türspalt im Spiegel meinen Vater, der mit seinem steifen Penis die glitzernden Brustwarzen der blonden Frau massierte, über ihre Rippen Stück für Stück herunterfuhr und schließlich keuchend in sie eindrang. Als beide stöhnend in den weißen Waschbecken hingen, schlüpfte ich durch die Tür, ließ die Haupttür zu den Toiletten aufschnappen und stürzte in den schmutzig getünchten Gang hinaus. Aus der Toilette hörte ich noch aufgeregtes Gemurmel. Jetzt haben Sie meine ganzen Ausführungen zum Eros verpasst, empfing mich ein gut gelaunter Herr Pachert im Erdgeschoß. Ich fuhr mit dem Rad vorsichtig durch die festlich geschmückten, eisglatten Straßen in unserem Ort, die Mütze tief über die Ohren gezogen, Kolibri leicht ums Herz. Die Reifen schnitten dort tiefe Furchen, wo der Schnee noch lag. In zwei Tagen war Weihnachten, in drei Tagen würde Weihnachten gewesen sein. So einfach war das. Und ich würde nun meinen Vater, ob er es nun wollte oder nicht, in dieses Weihnachten einbeziehen, indem ich ihm etwas schenkte. In einer Buchhandlung, die ich, obwohl ich den Inhaber nicht leiden konnte, wegen der für den kleinen Ort gigantischen Auswahl meistens aufsuchte, traf ich hier nun meinen fast gleichaltrigen Nachbar Patrick, der sich hier in einem Spanienreiseführer festgelesen hatte. Patrick war Schreinermeister und früher war er ein paar Mal bei uns an Weihnachten dagewesen, weil seine Mutter bei einem Unfall gestorben war und sein Vater mit Weihnachten nichts am Hut hatte. Ich überlegte kurz, beschloss, dass meine Mutter über zusätzliche gansvertilgende Gäste wohl mehr als erleichtert war, da Großmutter dieses Jahr nicht mehr dabei war, und lud Patrick ein, der erfreut zusagte. Kommt Dein Vater auch?, fragte er nebenbei, als er den koi-bunten Führer ins Regal zurückstellte wie eine Karies auslösende Süßigkeit, auf die man besser verzichten sollte. Wieso sollte der plötzlich kommen? fragte ich verdattert. Na ja, es gibt doch noch Zeichen und Wunder. Patrick grinste, auf die grün-braunen Harry-Potter-Berge der Balustrade deutend. Vielleicht gab es diese Zeichen und Wunder. Vielleicht hatte mein Vater auch eine Krippe gesehen. Vielleicht wurde Deutschland 2006 Fußballweltmeister. Vielleicht wurde George W. Bush Botaniker und entdeckte in Texas unter einer vergrabenen Schrotflinte eine neue Flechtenart. Aber solche Vielleicht waren verdammt mager. Meine resolute Großmutter würde verächtlich, über den weihnachtlichen Truthahn gebeugt, sagen: An dem Federvieh ist auch überhaupt nichts dran. Ich kaufte meinem Vater schließlich, unschlüssig, ob er überhaupt ein "Lesender" war, Tolstois Krieg und Frieden. Da war was dran. Eigentlich mehr Krieg als Frieden. Vielleicht verstand er das ja. Vielleicht. Nach dem Vorfall in der Glyptothek vermutete ich wütend, dass mich die Bilder aus der Toilette eine Weile verfolgen würden, dass ich sie, in den ungeeignetsten Momenten und nicht nachvollziehbaren Zusammenhängen vor mir sah, was dann tatsächlich prompt eintraf. Ich saß in einer schwierigen Stochastikklausur und sah über den Bernoulli-Ketten den muttermalbesprenkelten Rücken meines Vaters, wie er sich über die Frau beugte. Ich spielte Basketball, hörte beim Korbwurf das tiefe Stöhnen und zielte daneben. Ein netter Junge wollte mich auf dem Pausenhof küssen, ich sah mich schon in irgendwelchen öffentlichen Waschbecken kauern und verzichtete ohne Bedauern. Aber mit der Zeit tauchten die Bilder weniger auf, bis sie schließlich auf dem Boden des Unterbewusstseins liegen blieben wie ein abgesoffenes Schiff, nicht völlig weg, aber nur noch schwer zu reaktivieren, an die Oberfläche zu hieven. Nach vier weiteren vaterlosen Jahren kam nach dem Abitur eine überraschende telefonische Einladung von ihm, ich solle doch mit ihm dieses Jahr auf das Münchner Oktoberfest gehen, eine Idee, die ich nach all dem langen Nichtmelden, dem nach dem Auszug gezeigten absoluten Desinteresse an unserem Wohl, oder weniger Wohlergehen völlig daneben fand. Ich ging naturgemäß gern mit Verwandten oder Freunden auf die Wiesn, liebte die wimmelnde Jahrmarktsatmosphäre und die verschwenderische Bierzelteuphorie, aber sie war eben bestimmt kein Ort für tiefschürfende Gespräche oder echte, promillelose Gefühle nach vierzehn Jahren Absenz. Trotzdem sagte ich ja eigentlich ja, gut, ich komme, Käfers Wiesenschänke, Mittwoch, 15.00 Uhr, ich freu mich. Ich mich auch, sagte er stotternd, wohl unangenehm überrascht von meiner Zusage. Als ich dann mittwochs hier im schwarz-grünen Dirndl, in warmen Septembersonnenschein über die im Ausnahmezustand befindlichen, zeppelinumkreisten Theresienwiese eilte wie zu einem freudigen Rendezvous, wollte ich mich am liebsten zu den blechernen Dosen im Schießbudenstand gesellen und abknallen lassen. Dennoch, ich zwang mich die fleischgewordene Chronologie des professionellen Exzesses Fischer, Vroni Hippodrom, Ochsenbraterei, Hofbräu-haus, Augustiner brau, Hackerbräu, Schottenhamel, Bräurosl, entlang an unzähligen Dekolletés und Ich liebe Dich Lebkuchenherzen vorbei, bis ich dann vor Käfers Wiesenschänke stand wie vor einer Mischung aus Dozenten Sprechstundenzimmer, El Kaida Ausbildung Lager und Standesamt. Ich ging in das heiße, lärmende Zelt und irrte an den langen, singenden Tischreihen herum. Schließlich entdeckte ich ihn im hintersten Eck, in Alltagsgewand, kauend vor einem gebratenen Geflügel sitzend. Er erkannte mich, schien unschlüssig, ob er winken sollte, kaute stattdessen heftiger. Gut siehst du aus, sagte er, als ich mich ihm gegenüber setzte und warf mir einen Blick zu, den er wohl normalerweise für ausgesuchte Glyptothek Besucherinnen und geheilte Schlüsselbeinfrakturen aufsparte. Tja, bei den Genen, antwortete ich. Darauf sagte er nichts mehr, sondern zerriss krachend die zweite Hendlhälfte. Er war noch hagerer geworden, wenn das überhaupt möglich war, seine Wangenknochen stachen aus dem Gesicht, sein braunes Haar wirkte getönt. Einen so rötlichen Unterton hatte es früher auf jeden Fall nicht gehabt. Ich bestellte eine Wiesenbreze, eine Maß und einen Teller Kässpatzen. Und, wie geht es dir? fragte ich ihn schließlich, da er nicht fragte. Gut, nickte er, sich ständig umschauend, gestern wurde die orthopädische Abteilung um dreißig Betten aufgestockt. Bestens, nickte ich, die Breze verhalten lächelnd von der Salzflut befreiend. Mein Vater und Anton aus Tirol, das war nun schon eine bizarre Mixtur. Und privat?, fragte ich sorglos. Hast du eine Freundin? Unverzüglich verschluckte er sich und hustete im Takt zu DJ Ötzi. Wie kommst du denn auf so was? entgegnete er röchelnd, als hätte ich ihn gefragt, ob er nebenbei Qi Gong unterrichtete. Ich sah weiße Waschbecken und beige Trenchcoats. Nur so. Er trank seine Maß aus und ordnete die Knochen auf seinem Teller an wie einen Holzhaufen. Ich muss wieder in die Klinik. Du weißt ja. Ich betrachtete ihn reaktionslos, wie er aufstand und hinausging und wunderte mich zum hunderttausendsten Mal, dass mein Vater Arzt war. Fachlich schien er ein Ass zu sein. Menschlich eine einzige Fraktur. Die entstaubte Krippe meiner Großmutter stand jetzt im Wohnzimmer, wie eine kleine, bewohnte Hütte unter dem Christbaum. Die Laterne darin funkelte, als blinzelte meine Großmutter hinter ihren Brillengläsern uns zu. Meine Mutter, Patrick und ich saßen mit Gans im Bauch und Glühweintassen und Zimtsternen in der Hand auf den roten, warmen Bodenfliesen und diskutierten satt, zerbröselt und glücklich über den Bürgermeister der Gemeinde und anstehende Bauprojekte. Wenn wir schwiegen, hörten wir das Holz im Kamin knacken und den frostigen Schneewind um das Haus heulen. Kurz vor dreiundzwanzig Uhr taumelten wir in unsere Mäntel und in die Kälte, in die Kirche hinaus, in das Krippenspiel hinein. Krippenspiele haben etwas unvergleichbar Tröstendes, wie eine warme Decke für die Verklungen und Erfrierungen des fast vergangenen Jahres oder sogar Lebens, gespickt mit Menschen, die einem die Tür vor der Nase zuschlugen und viel zu wenig Engeln, Hirten und Weisen. Vielleicht ist die Situation in der Krippe nur eine kurze Momentaufnahme. Aber wir vergessen nie, sie uns wieder herbeizuwünschen. Und schicken vielleicht deswegen Pakete nach Frankfurt, ohne erklärenden Zettel.

 

 

 

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25.   ©Nativity plays

 

Perhaps it was the crib that my grandmother had bequeathed to my mother like her only jewel, a beautiful, carved still life with forty figures, covered by a jagged comet, few colors, far from kitsch, that ultimately moved me to send this package to my father to send. Suddenly she was standing in the hall like a run-in, trusting pet, from the kitchen I heard pithy radio voices, the names of terrorists passing around like blackened cookies, in my hand I was holding a vibrating cell phone and the frightening bill from a pipe cleaning company, and I saw them confused Figures that were in this crib as if in a closed, straw-padded cockpit of happiness. The luminous, lantern-hung center: father plus mother plus child, a perfect, perfect, sealed egg, as if under nature protection. Who had pierced the egg and sucked the yolk out of our house, I wondered, and something inside of me wanted to jump up, walk through the corridors in dungarees, striped socks and size 29 shoes, far away from this happy archipelago. The corridor light was the color of travel sickness. That's how it was when you were no longer in the cockpit. My father was a surgeon in a Bavarian accident clinic, a fact that I was aware of as a child, mainly through his permanent absence. Once, when her heart was still dangling from him like the stethoscope that seemed to have grown together with his smock, my mother went to a doctor friend of mine, had a huge x-ray of her knee and sent it to him to the clinic, her symbolic knee-fall like Willy Brandt, she wrote a long text about it that I couldn't read at the time. Their intention to expand his interest from skeletal to family matters failed, it almost seemed that he was only coming home to sleep, to sift through the piles of mail, which from my perspective were the size of a tank, or to shut the two brightly colored Koi carps in the specially created garden pond that he was given as a present by a very rich Japanese man after a successful ankle operation, and they were now something like his floating operating trophy. I hated the two fish from the moment I noticed that my mother and I were pale against the yellow, pink speckled animals in his eyes, graying with normalcy, yes, annoying because we asked for more than fish food and healthy joints. I can only remember one Christmas when my father was there, and that was the last time I shared. My grandmother had come from Switzerland with the Chocolate Valley Mountains, the Dachshund Wilhelm Tell and Montblanc very worried about their daughter's marriage. From morning to night she stood in our otherwise boilresistant kitchen, as if she could paste up the gaping jumps between the two with iced Kaiserschmarrn, pikeperch on savoy cabbage or tons of cookies, read to me and mine in a Frau Holle voice Charles Dickens Father the Levites in the snowy garden between the pond and the organic waste bin. I stood by the window in my room, a place in the shape of a wild boar in my hand, and watched the two of them, saw the snowflakes rattle down on them like acorns. At that moment I loved my grandmother for the fact that, at the age of 75, she was standing in the middle of the snowstorms in an apron and red cheeks, without a jacket, and with light slippers every word she said on this Gore-Tex dad ricocheted off, making her angry, if that was still possible. I went down the wide wooden stairs into the living room, stopped halfway up and saw my mother, her slim figure, who was also standing at the window and listening desperately, on the floor next to her a broken, bulbous Christmas tree ball, she must have just been decorating the Christmas tree be. I crept back up the stairs until I heard the front door crash. A koi is dead! shouted my father, his face a reddish-white grape, and stormed up the stairs without noticing me, my grandmother came far after him into the house, foggy glasses, panting helplessly. My mother silently patted the snow from her hair, shoulders and back. It's pointless, whispered my grandmother, my mother nodded, and I already suspected that it wasn't about the pointlessness of knocking off snow, where she was soaked to the skin. Other things were pointless. I ran into the garden to the pond and saw the yellow, dead koi, which was already lying in a wooden box like a comet plucked from the sky, while the other was twitching restlessly and pale blue in the dark water between frosty lily pads. With mixed feelings about the koi death, I staggered into the house. At five o'clock the presents were given. I wished for a big stuffed dolphin, which I still have today. In the icy silence between the adults, I unpacked the German shepherd-sized package and cried into the dolphin fins, glad that it looked as if the joy was overwhelming me. Meanwhile, there were three large, badly packed suitcases for my father in the hallway, patiently waiting for his departure like well educated children for the Christ Child. The cardboard box with the yellow, muddy Styrofoam chips that I had discovered in the attic on a farmer's cupboard, in which my mother had about twenty-seven discarded golf clubs (three iron, seven iron, turkey, her obscure golf triad) as well as a vast number of earthy balls, unprocessed tweed fabrics, encrusted wheel varnish , nicely worn washers as well as these road maps from 1965 were kept like a messy lithograph of their youth, could no longer be held and crashed convulsively on the wooden floor next to me. The lid flew open, in a split second I was standing in a yellow, gently fogging rough, a transparent tarpaulin, once used to cover my grandmother's sewing machine arsenal, peeled off the cupboard and enveloped myself in the wild flurry like a modern, suffocating snow globe. When I stalked into the warm, meticulously tidy living room a few minutes and spider attacks later, trailing a yellow chip trail behind me, my mother was lying on the couch in a therapeutic horizontal and, with raised eyebrows, was watching a health program promoting herbs. The word health, I knew only too well, made her, who worked for a medical journal, sick. It smelled of defiant, Wagnerian Dresden stollen and mandarin plasma. Have you found what you are looking for? she asked absently, while her dark eyes gleefully stabbed a dandelion endoscope, doused it with rapeseed oil and tossed it between the purple-green lettuce leaves. I nodded, pondered whether I should ask her carefully about the chaos of her storage cabinets, but with a view of the shimmering Christmas tree next to the open fireplace here decided that December 22nd was clearly not a day to talk about banalities like lively spider nests in golf ball bags to talk, and instead laid the empty box on the carpet like a piggy bank that I hoped would fill. The address, I said hopefully to reproachfully. Do you already know what you want to give him? she asked, suddenly sitting up with interest, although dancing thyme pixels vied for her murderous attention. I shook my head as if by doing so I could erase the thought of giving him something. Maybe just the empty box. Hot air, that would be appropriate. We looked at each other, mother and daughter, looking at the pure, distilled past, a lot of injury, a little plaster, a little scab, a little scar and many years of healing. I could think of better. She made a face, but jumped up anyway and took her red address book and a thick black felttip pen from her room. I wrote the new Frankfurt address on a postal sticker and was annoyed that my hands were shaking. Especially that my mother saw it. But I didn't write to my father every day. Basically it was the first time, and that when I was 21. A late bloomer in terms of fatherly love? He hadn't stayed long at the trauma clinic, he moved to Munich to the University Hospital on the right of the Isar, bought a much too large condominium in Lehel with a pool the size of a pool for the Koi orphan, and now only called by phone when it was absolutely necessary. It wasn't until many years later, when I was already in middle school, that I saw him again, without warning, on a trip our class to the Munich Glyptothek, accompanied by a tall, blond woman wearing a beige trench coat. It hung las-civiously on his shoulder, giggled and gestured to the genitals of the Greek statues, whispered incessantly in his ear, and seemed to demand two hundred percent of his attention, like a good, proper splinter break. I stood in front of the statue of David with a couple of school friends and the anxious Latin teacher sweating in his black beard without noticing a word of his dull remarks in terms of statics and proportionality. What's happening? Nina finally whispered, alarmed by my minutes of silence and the stare that slipped through David's thigh neck. Nothing. I looked for my father between the gray plastic legs, but he was gone. I'll go to the bathroom, I mumbled as Mr. Pachert tried to explain the importance of eros in Greek art to the chewing gumexchanging class. I just wanted to be alone for a moment. Only alone. I locked myself in a cabin and leaned against the door from the inside like a discarded snow shovel. Shortly afterwards I heard the door to the ladies room slam shut and giggle violently. Lock from the inside! Gasped a familiar male voice. It clicked, the rough voice asserted how keen she was on the woman, while the woman, horrified or delighted, groaned, a shirt button rolled across the floor in my cabin, I heard various buckles and hooks snap open and wet, demanding kisses. A beige coat fell on the floor. As if in a trance, I opened the door, through the crack in the mirror I saw my father, who was massaging the glistening nipples of the blonde woman with his stiff penis, sliding down her ribs bit by bit and finally gasping into her. When they were both groaning in the white sink, I slipped through the door, snapped open the main door to the toilets, and rushed out into the dirty, whitewashed hallway. I could still hear excited murmurs from the toilet. Now you've missed all of my remarks on Eros, said a good-humored Mr. Pachert on the ground floor. I rode my bike carefully through the festively decorated, icy streets in our town, my cap pulled low over my ears, hummingbird lightly around my heart. The tires cut deep furrows where the snow still lay. In two days it would be Christmas, in three days it would be Christmas. It was as simple as that. And I would now, whether he wanted it or not, include my father in this Christmas by giving him something. In a bookstore, which I mostly went to because of the gigantic selection for the small town, although I didn't like the owner, I met my neighbor Patrick, who was almost the same age, who had read up on a travel guide to Spain. Patrick was a master carpenter and he used to come to our house a few times at Christmas because his mother had died in an accident and his father had nothing to do with Christmas. I thought about it for a moment, decided that my mother was more than relieved to have additional goose-eating guests, since grandmother wasn't there this year, and invited Patrick, who happily accepted. Is your father coming too? He asked incidentally, as he put the koi-colored guide back on the shelf like a candy that causes tooth decay and which should be avoided. Why should it come suddenly? I asked puzzled. Well, there are still signs and wonders. Patrick grinned, pointing to the green and brown Harry Potter mountains of the balustrade. Perhaps there were these signs and wonders. Maybe my father had seen a crib too. Maybe Germany became soccer world champion in 2006. Perhaps George W. Bush became a botanist and discovered a new species of lichen in Texas under a buried shotgun. But such maybe were damn thin. My resolute grandmother would contemptuously, hunched over the Christmas turkey, and say: There's absolutely nothing to the poultry either. Finally, uncertain whether he was a "reader" at all, I bought Tolstoy's War and Peace for my father. There was something to it. More war than peace, actually. Maybe he understood. Maybe. After the incident in the Glyptothek, I angrily suspected that the pictures from the toilet would haunt me for a while, that I saw them in front of me at the most inopportune moments and in incom-prehensible contexts, which actually happened promptly. I sat in a difficult stochastics exam and saw my father's back, speckled with birthmarks, above the Bernoulli chains, as he bent over the woman. I was playing basketball, heard the deep moaning as I threw the basket, and took aim. A nice boy wanted to kiss me in the playground, I saw myself crouching in some public washbasin and gave up without regret. But over time the images appeared less and less until they finally lay on the floor of the subconscious like a flooded ship, not completely gone, but difficult to reactivate, to heave to the surface. After four more fatherless years, after graduating from high school, I received a surprising telephone invitation from him that I should go to the Munich Oktoberfest with him this year, an idea that I had after all the long non-response, the absolute lack of interest in our wellbeing after moving out , or found less welfare completely wrong. Naturally, I liked going to the Oktoberfest with relatives or friends, loved the teeming fairground atmosphere and the lavish beer tent euphoria, but it was definitely not a place for in-depth conver-sations or real, thousandfree feelings after fourteen years of absence. Nevertheless, I actually said yes, well, I'm coming, Käfers Wiesenschänke, Wednesday, 3 p.m., I'm looking forward to it. Me too, he said with a stutter, pro-bably unpleasantly surprised by my acceptance. When I hurried here on Wednesdays in a black and green dirndl, in warm September sunshine, over the zeppelincircled Theresienwiese, which was in a state of emergency, as if to a joyful rendezvous, I wanted to join the tin cans in the shooting gallery and be blasted. Nevertheless, I forced myself to follow the incarnate chronology of professional excess Fischer, Vroni Hippodrom, Ochsenbraterei, Hofbräuhaus, Augustiner brew, Hackerbräu, Schottenhamel, Bräurosl, past countless necklines and I love you gingerbread hearts, until I stood in front of Käfers Wiesenschänke like in front of a mixture of lecturers office hours, Al Qaeda training camp and registry office. I went into the hot, noisy tent and wandered around the long, singing rows of tables. Finally I discovered him in the farthest corner, in everyday clothes, sitting chewing in front of a roast poultry. He recognized me, seemed unsure whether to wave, instead chewed harder. You look good, he said when I sat down across from him and gave me a look that he usually kept for selected Glyptothek visitors and healed collarbone fractures. Well, about the genes, I replied. Then he said nothing more, but tore the second half of the chicken with a crack. He was even thinner, if that was even possible, his cheekbones sticking out of his face, his brown hair looked tinted. In any case, it hadn't had such a reddish undertone before. I ordered a meadow pretzel, a Maß and a plate of Kässpatzen. And how are you? I finally asked him because he didn't ask. Good, he nodded, constantly looking around, yesterday the orthopedic department was increased by thirty beds. Best of all, I nodded, relieving the pretzel with a cautious smile from the flood of salt. My father and Anton from Tyrol, that was a bizarre mixture. And privately? I asked carelessly. Do you have a girlfriend? Immediately he choked and coughed in time to DJ Ötzi. How do you come up with something like that? he replied with a gasp, as if I had asked him if he was teaching Qi Gong on the side. I saw white sinks and beige trench coats. Only like that. He finished his measure and arranged the bones on his plate like a pile of wood. I have to go back to the clinic. You know. I looked at him unresponsively as he got up and went out and was amazed for the hundred thousandth time that my father was a doctor. Professionally, he seemed to be an ace. Human a single fracture. My grandmother's crib, dusted off, now stood in the living room, like a small, inhabited hut under the Christmas tree. The lantern in it sparkled as if my grandmother was blinking at us from behind her glasses. My mother, Patrick and I sat with a goose in our stomach and mulled wine cups and cinnamon stars in our hands on the red, warm floor tiles and sat full, crumbled and happy about the mayor of the community and upcoming construction projects. When we were silent, we heard the wood crack in the fireplace and the frosty snow wind howling around the house. Shortly before eleven o'clock we staggered into our coats and into the cold, into the church, into the nativity scene. Nativity plays have something incomparably comforting, like a warm blanket for the fading and frostbite of almost the past year or even life, peppered with people who slammed the door in your face and far too few angels, shepherds and wise men. Perhaps the situation in the crib is just a brief snapshot. But we never forget to wish them back to us. And maybe that's why we send parcels to Frankfurt without an explanatory note.